Joachim Seemann empfiehlt:
Delphine de Vigan
Die Kinder sind Könige Roman
Aus dem Französischen von Doris Heinemann
DUMONT, 2022
Der Leser begibt sich unter der Anleitung der Polizistin Clara Roussel im November 2019 auf eine spannende Suche nach einem in Paris vermissten Kind und auf eine packende Reise durch die mediale Entwicklung unserer Zeit.
„Am 5. Juli 2001, dem Tag des Finales von Loft Story, saßen Mélanie Claux und ihre Schwester Sandra auf ihren angestammten Plätzen vor dem Fernseher. Seit dem Beginn der mitBig Brother verwandten Show am 26. April hatte sich Familie Claux keine Folge der donnerstags zur Primetime ausgestrahlten Sendung entgehen lassen.“ (Text S.9)
Das ist Anfang und Ursache der Geschichte. Mélanie Claux wird diese Prägung bis zum Ende des Romans im Jahr 2031 nicht überwinden können, sie kann ohne die Öffentlichkeit nicht leben. Mélanie wird eine erfolgreiche Youtuberin, die mit Videos und Posts über das Leben ihrer zwei Kinder verfügt und es der Öffentlichkeit preisgibt. Sie hat Tausende von Followern und ist geschäftlich sehr erfolgreich. Doch dann verschwindet die sechs Jahre alte Tochter Kimmy plötzlich.
Clara Roussel, die alle Ermittlungsergebnisse zu dem Fall sammelt und auswertet, sagt:„Es ist eine Welt, deren Existenz unsere Vorstellungskraft übersteigt.“ (Text S. 57) Für sie ist die Geschichte mit dem Wiederauftauchen Kimmys auch längst nicht beendet. Immer wieder ziehen verschiedene Ereignisse sie wieder in den Fall hinein.
Am Ende des Romans, im Jahre 2031, in einer unsicheren Welt, in der ein Schmetterling vielleicht eine Drohne ist, wollen die Geschwister die Eltern wegen ihrer früheren Ausbeutung verklagen.
Dieses Buch ist packend, klug und literarisch interessant. Aus den unterschiedlichen Perspektiven der Protagonisten werden erschreckende Abgründe aufgezeigt, die sich auftun in einer Welt, die wir (ich) tagtäglich erleben. Die Polizistin Clara muss sich wie der Leser in diese parallele Welt des Netzes begeben, deren Zugänge wir in Form von Smartphons und Tabletts immer sehen, aber – ein Teil der Leser – nicht als solche verstehen. Sie sind die weißen Kaninchen, die Alice ins Wunderland führen.
Insofern denke ich, ist es ein sehr wichtiges und nützliches Buch, das die Möglichkeiten und Gefahren des Netzes aufzeigt, dem man nicht mehr entkommt und das einem vorspielt:
„Alles gut.“ (Text S.315)