Ulrich Ostermann empfiehlt:
Georgi Demidow
Fone Kwas oder Der Idiot Roman
Verlag: Galiani Berlin 2023,
150 Seiten und 40 Seiten Anmerkungen und Anhang
Ein Jahrhundertwerk
Der Protagonist des Romans Rafail Belokrinitskij, ein Elektroingenieur, wird 1937 verhaftet und in einem Gefängnis der sowjetischen Geheimpolizei unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten und verhört. Einen Kontrast dazu bildet die Gemeinschaft der Zellengenossen, die neben den Gefängnisthemen auch über Gesellschaft und Staat der Stalinära diskutiert.
Im Unterschied zu anderen Gefangenen wird Rafail nicht physisch gefoltert, weil der „Unschuldige“ seine vermeintlich konterrevolutionären Taten selbst erfindet, um seine Vernehmer zufriedenzustellen. Aus dem von ihm erfundenen „Elefanten“ wird in der Anklage aber eine dämonische Gestalt des Bösen, die sich zum Schluss in einem Urteil manifestiert, das er nicht erwartet hatte.
Es ist ein kafkaesker Roman, der die perfide Behandlung von Menschen und deren Anpassung an das entmenschlichende System in einem Gefängnis der Geheimpolizei beschreibt. Die Gefangenen haben dennoch menschliche Züge, die aber im totalitären Justizsystem nicht zum Tragen kommen können.
„Was bei Kafka noch Parabel ist, bei Beckett existentialistisches Labor, ist bei Demidow lineare Erzählung, die nur im Gebrauch der Tempi anzeigt, dass ´die Realität anders als die Wirklichkeit´ ist.“ (Zitat aus dem Anhang).
Es ist das erste und einzige in deutscher Sprache erschienene Buch (2023) des russischen Autors, der 1937/38 selbst zu Lagerhaft verurteilt wurde. Sein lange verschollen geglaubtes, beschlagnahmtes Originalmanuskript stammt aus dem Jahr 1964. Es ist Vor-Lager-Literatur, die in der stärksten stalinistischen Repression angesiedelt ist und, bewusst oder unbewusst – das wissen wir nicht, den Boden bereitet für die Literatur Alexander Solschenizyns, Lew Kopelews und einiger anderer. Das Manuskript ist 1989 im Tauwetter der Perestroika aus den Geheimdienstarchiven ‚befreit‘, aber erst 2009 auf Russisch veröffentlicht worden. Der Roman hat heute in der Darstellung der Zustände in den Gefängnissen totalitärer Regime eine unfreiwillige Aktualität.