Dieter Czajka empfiehlt:
Robert Menasse
Die Erweiterung Roman
Suhrkamp Buchverlag Berlin 2022
Vor diesem Buch kann nicht eindringlich genug gewarnt werden. Es enthält ein hohes Maß an Suchtpotential. Wer erst einmal angefangen hat, darin zu lesen, kann es nicht wieder aus der Hand legen. Und am Ende fragt er: Wie geht es nun weiter?
Der Titel „Die Erweiterung“ bezieht sich auf die Ost-, genauer: Südost-Erweiterung der Europäischen Union. Das Buch knüpft damit an Menasses Roman „Die Hauptstadt“ an. Doch während dieser das Schild „Achtung – Satire“ jederzeit sichtbar vor sich herträgt, gewinnt man bei der „Erweiterung“ den Eindruck der romanhaften Darstellung eines tatsächlichen Geschehens. Genauso könnte es sich abgespielt haben!
Im Zentrum des Geschehens steht Albanien, das „Land der Skipetaren“ (Karl May-Leser wissen Bescheid). Soeben hat der französische Präsident durch sein Veto die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zwischen Albanien und der Europäischen Union verhindert. Als Gegenmaßnahme und um Brüssel unter Druck zu setzen, beschließt der albanische Präsident, die Vereinigung aller Albaner – in Albanien, im Kosovo und in Mazedonien – zu seinem politischen Ziel zu erheben. Symbol dieser Vereinigung soll der Helm des mittelalterlichen Nationalhelden Skanderbeg sein, dessen Denkmal in Albaniens Hauptstadt Tirana steht. Der Helm freilich befindet sich im Kunsthistorischen Museum in Wien. Grund genug, um von Österreich nach bekanntem Vorbild seine Rückgabe zu verlangen. Freilich ist er für den markanten Schädel des albanischen Präsidenten viel zu klein – darum erhält ein albanischer Kunstschmied den Auftrag, eine passende Kopie anzufertigen. Beide Helme werden jedoch geraubt – der in Wien auf Veranlassung der politischen Gegner des Präsidenten, der Nachbau durch Straßenräuber. Der weitere Weg der Helme bietet dem Leser einen Einblick in die auch in Albanien verbreiteten mafiosen Strukturen. Um dieses Geschehen ranken sich in vielfacher Hinsicht persönliche Schicksale und Erlebnisse.
Darüber hinaus erhält der Leser auch Einblicke in die Vergangenheit Albaniens; er erfährt zum Beispiel, dass im Zweiten Weltkrieg eine SS-Division „Skanderbeg“ existiert hat, deren Hauptaufgabe im Aufspüren von Juden bestand; er liest aber auch etwas über den traditionellen albanischen Ehrenkodex, in welchem der Schutz des Gastes an vorderster Stelle stand, so dass der Gastgeber anstelle des bei ihm verborgenen Juden seinen Sohn den SS-Schergen auslieferte.
Den politischen Höhepunkt sollte eine Konferenz der Staatschefs der Europäischen Union während der Jungfernfahrt des in Albanien gebauten Kreuzschiffes „Skanderbeg“ bilden, in deren Verlauf auch einer der Helme eine bedeutende Rolle spielen sollte. Ob es dazu kam und was sich auf dem Schiff sonst noch ereignete, was ein schemenhaft auftauchender Chinese dort zu suchen hatte, hält den Leser bis zum Schluss in Spannung.
Robert Menasse liest aus seinem Buch am 28. März 2023 im Heinrich-Heine-Haus in Lüneburg.