Buch-Tipp Februar 2024

Dirk Hansen empfiehlt:

Giuliano da Empoli

Le mage du Kremlin / Der Magier im Kreml Roman

Verlag: Gallimard 2024 (TB) / C.H. Beck 2023

„Was ist Wahrheit?“ – Eine uralte (Pilatus-)Frage. Was ist Fiktion? Auch das ist nicht neu, aber den Leser eines Romans 300 Seiten lang zu fragen, ob er zur Unterscheidung fähig ist, das stellt denselben durchaus vor eine Herausforderung. 

Der italo-schweizerische Autor Guiliano da Empoli, Politikwissenschaftler an der „Sciences Po“ in Paris, hat 2022 einen sensationellen Erfolg mit seinem Roman, der auf intensiven Recherchen der Zeitgeschichte beruht, auf dem inzwischen internationalen Markt gelandet. Nur knapp am „Prix Goncourt“ in Frankreich vorbei, hat dieses Buch längst mit seinen Verkaufszahlen mit über einer halben Million allein in Frankreich alles überholt, was literarisch seitdem angesagt ist. Auch die deutsche Übersetzung 2023 war für den C.H.Beck-Verlag ein sofortiger Bestseller. Warum ?

Der Roman führt den Leser in die eigene Zeitgeschichte, die er seit den 1990erJahren vermutlich in eigener Erinnerung noch hat, auch wenn viele Ereignisse und Namen ihm erst wieder bei der Lektüre vor Augen treten. Die politischen Umbrüche seitdem, insbesondere in Rußland bzw. der einstigen Sowjetunion, werden wieder wachgerufen. Namen wie Putin, Jelzin, Clinton oder Merkel sind einem noch geläufig – aber auch noch Boris Beresowski, Michail Chodorkowski oder Wladislaw Surkow ?  Diese Oligarchen, Politikberater, Höflinge, Intriganten und Propagandisten, diese der „Macht“, dem „Zaren“, also Putin unmittelbar dienenden Günstlinge gelangten unvorstellbar schnell zu immensen Milliardenvermögen, indem industrielle Ressourcen Rußlands nicht nur in Öl und Gas, auch in Medien ausgebeutet wurden. Sie wurden aber auch von der „Macht“ verstoßen, ja umgebracht oder zum Selbstmord getrieben, sobald sie ausgedient hatten oder gar zu Konkurrenten zu werden drohten.  Diese Verdichtung von realer Zeitgeschichte und romanhafter Fiktion macht die Faszination der Lektüre aus. 

Der Erzähler schlüpft zunächst in die eigene, vermeintliche Familiengeschichte; als Vadim Baranow erinnert er den eigenen Großvater, der noch im zaristischen Rußland, dessen Literatur und mit der Oktoberrevolution sowie in Kiew und dem alten „Rus“ Erfahrungen gemacht hatte. In diesem Rahmen taucht dann auch eine, natürlich besonders charismatische Frauenfigur, Xenia, auf, die zum – etwas kitschigen – Ende des Romans dem Erzähler zur Rettung wird. Der Kern der Geschichte, der Aufstieg Wladimir Putins zur Macht aber scheint untrennbar verbunden mit der Rolle des Magiers im Kreml. Das Chaos in der zerbrochenen Sowjetunion, die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche der Jelzin-Zeit riefen förmlich nach einem neuen Rasputin am Hofe des „Zaren“. Dieser Meister des Geheimdienstes, dieser letztlich immer einsame Machthaber, der niemandem vertraut und seinen Traum einer „russischen Seele“ sowie der Wiederherstellung einer Groß-, ja Weltmacht verfolgt, dieser Putin und sein langjähriger Chefideologe Surkow (jetzt als Spin-Doctor Baranow) wissen, wie die absolute Macht personell und strukturell zu installieren ist. Fast drei Jahrzehnte unserer Zeitgeschichte, bis hin zur Eroberung und Annektion der Krim, werden wach und rufen den Leser in eigene Erinnerungen zurück. Was ist wahr daran, was nur fiktiv? Diese Mischung hält in Spannung, ja sie erschrickt und sie lässt fragen: ist dies wirklich die Wirklichkeit? Die Magie des Möglichen überwältigt.

(Im ‚cercle littéraire‘ der Deutsch-Französischen Gesellschaft Lüneburg-Clamart wird dieser Roman am 13. Febr. 2024 diskutiert.))