Dirk Hansen empfiehlt:
Juli Zeh
Corpus Delicti Ein Prozess Roman
Verlag: btb 2013; Originalverlag Schöffling 2009
Wer im Frühjahr 2025 mal wieder ins Theater Lüneburg gehen will, könnte vor seinem Besuch (Premiere 8.2.) des 2007 bei der Ruhrtriennale uraufgeführten Schauspiels Corpus delicti von Juli Zeh den zwei Jahre später (2009) erschienenen Roman der Bestseller-Autorin (noch einmal?) zur Hand nehmen und sich von demselben fesseln lassen. Die erfolgreiche Schriftstellerin, studierte Juristin, ehrenamtliche Richterin und vielfacher Gast von Talk-Shows, versteht sich bestens darauf, den Leser in eine Welt utopisch-dystopischer Vorstellungen zu führen und zugleich doch nicht die reale Welt gegenwärtiger Lebensbedingungen aus dem Auge zu verlieren. 1984 von George Orwell lässt grüßen und die Erfahrungen der soeben erst erlebten Pandemie von Covid-19 knüpfen den Faden zwischen Wirklichkeiten und Phantasien. Der Untertitel des Romans Ein Prozess lässt ahnen, dass es wohl um das Recht, aber auch um Moral und die Wahrheit geht.
Im Mittelpunkt des Romans steht eine junge Frau, Mia Holl, die die Unschuld ihres Bruders Moritz beweisen will. In wiederkehrenden Zwiegesprächen mit der „idealen Geliebten“, ihrem Alter ego, sucht sie ihr Gewissen zu erforschen. Moritz sei doch nicht Vergewaltiger und Mörder einer jungen Frau, sondern vielmehr selber Opfer des „Systems“ gewesen. Eben dieses „System“ ist das eigentliche Thema des Romans. Im Namen der Methode beherrscht der Staat – wir befinden uns in der Mitte des 21. Jahrhunderts – die Bürger: Gesundheit ist die höchste Bürgerpflicht! Santé lautet die Grußformel. Alle gesellschaftlichen Tätigkeiten sind dem obersten Prinzip privater wie staatlicher Fürsorge unterworfen. Das Rauchen einer Zigarette ist toxisch und also verboten. Der totalitäre Staat will unser aller Bestes. Ein „Recht auf Krankheit“ oder gar auf Selbstmord spiegelt nur längst überwundene Ideen und muss eliminiert werden. Das Virus ansteckender Gedanken ist kompromisslos zu bekämpfen. Wer sich auflehnt, landet nicht nur vor Gericht der „schwarzen Puppen“, sondern wird im Zweifelsfall auch auf unbestimmte Zeit „eingefroren“.
Juli Zeh hat zweifelsfrei einen Nerv unserer modernen Welt getroffen und oft fragt sich der Leser, in welcher Wirklichkeit er denn tatsächlich heute lebt. Oder ist alles nur Theater?