Buch-Tipp Januar 2024

Renate Seemann empfiehlt:

Otfried Preußler

Die Flucht nach Ägypten – Königlich böhmischer Teil

Verlag: Neuherausgabe Patmos 2023, Erstherausgabe: Piper 1978

Am 20. Oktober 2023 wäre Otfried Preußler 100 Jahre alt geworden, was von allen Medien zum Anlass genommen wurde, an diesen großartigen Kinderbuchautor zu erinnern und sein Werk zu würdigen. Und tatsächlich hat er – fast – nur Kinderbücher geschrieben, was ihn bei manchem Leser für nicht weiter erwähnenswert erscheinen lassen mag. Aber gerade dieses eine 1978 erschienene Buch für Erwachsene – Kinder können es vielleicht lesen, begreifen werden sie es noch nicht – diese „Flucht nach Ägypten“ ist ein so lebenskluges und humorvolles Werk, dass er damit schon allein als großer Autor gefeiert werden könnte.

Es ist dem Patmos Verlag zu danken, dass das Buch seit September in neuem Gewand wieder greifbar ist und nun zum Dreikönigstag – davor oder danach – wieder großen Lesegenuss verbreiten darf.

Aus dem Matthäus-Evangelium kennen wir die Geschichte vom fürchterlichen bethlehemitischen Kindermord des Herodes, dem das Jesuskind gerade noch entkommt, weil die Heilige Familie unmittelbar nach dem Besuch der Sterndeuter – die Heiligen Drei Könige gibt es in der Bibel nicht – nach Ägypten fliehen kann. Über die Flucht selbst erfährt man aus der Bibel auch nichts, und so darf in der ‚Produktbeschreibung‘ für das Hörbuch mit vollem Recht stehen: „ … die bewegendste Weihnachtsgeschichte seit rund 2000 Jahren, im typischen Preußlerschen Tonfall gehalten, voller Sprachwitz, spitzer Ironie und erzählerischer Kapriolen, …“.

Vergnüglich für den Leser spielt Preußler lustvoll mit Anachronismen und lässt den kürzesten Fluchtweg nach Ägypten geradewegs durch das königliche Nordböhmen des späten neunzehnten Jahrhunderts mit seinen Weihnachtsbräuchen, Krippen, Kirchen und Heiligen gehen. Aber obwohl die Emigranten längst über die Landesgrenze gekommen und damit dem fiesen Herodes rechtlich schon entronnen sind, schickt dieser dem Kaiser Franz Joseph ein Telegramm nach Wien, „im Wege der gegenseitigen Amtshilfe“ möge er die Familie des Zimmermanns aus Nazareth in Böhmen aufgreifen, festsetzen und in das jüdische Land zu Herodes zurückschicken. Die bürokratischen Windungen im Kaiserreich sind nun unglaublich verwickelt und führen am Ende in der Hierarchie hinunter zu dem k. u. k.  Gendarmeriepostenkommandanten Leopold Hawlitschek in der Gemeinde Hühnerwasser, der nun der Heiligen Familie hinterhergeschickt wird. Die Hölle, die ebenfalls ein Interesse daran hat, dass der göttliche Heilsplan vereitelt wird, schickt ihrerseits zur Spurensuche und Unterstützung des Hawlitschek den Mittleren Oberteufel auf Probe Pospisil, Abteilung für Höllische Angelegenheiten des Königreichs Böhmen, der in den Fleischerhund Tyras hineingefahren ist. 

Natürlich bekommt die Heilige Familie himmlischen Schutz, verkörpert durch den Esel, in den für eine gewisse Zeit der Erzengel Gabriel eingegangen ist. Und dann wird sehr lebendig und eben gerade realitätsnah erzählt, was der moderne Mensch unter den Begriff ‚Road Movie’ fassen würde. 

Wer gern satirisch und ironisch auf das große Welttheater blickt, wird seine Freude an diesem Lesestoff haben, der das menschliche Handeln im Kern zeitlos erscheinen lässt.

Wolfgang Fuhrmann am 6. Januar des letzten Jahres in der FAZ: „Solche kleinen und großen Wunder, wie sie naturgemäß den Weg der Heiligen Familie zieren, sind alle von solcher Natur, dass sie dem religiösen Kitsch haarscharf ausweichen: Keine Krankheit, keine ungewollte Schwangerschaft, nicht einmal menschliche Niedertracht können Maria und ihr göttlicher Sohn ungeschehen machen, sie können nur für den Augenblick Leid lindern und Auswege anbieten.“ 

Und am Ende der Rezension kommt Fuhrmann zu dem Resultat: „Es ist eines jener nicht allzu häufigen Bücher, bei denen man sich schon während des Lesens auf die abermalige Weihnachts-Lektüre freut.“