Buch-Tipp Oktober 2023

Dirk Hansen empfiehlt:

Anne Berest

La Carte Postale / Die Postkarte Roman

Verlag: ? 2022 / Berlin Verlag 2023

Jude, Jüdin zu sein – das heißt: eine jüdische Mutter zu haben. Die hier vorgestellte Autorin, Regisseurin und Schauspielerin, 1979 in Frankreich geboren, entdeckt anhand einer 2003 gefundenen, an ihre Eltern gerichteten Postkarte ihre eigene, jüdische Identität. Die anonyme Ansichtskarte zeigt die Pariser Opéra Garnier und enthält nur vier Vornamen: Ephraim, Emma, Noémie, Jacques. Die Namen der Großeltern ihrer Mutter und deren Tante und Onkel. Alle in Auschwitz ermordet. 

Erst Jahre später fragt die Autorin nach der Herkunft der Karte. Mit Hilfe ihrer Mutter beginnt eine spannende Recherche der eigenen Vorfahren. Die Familie Rabinovitch kam aus Rußland, floh nach Lettland, in Teilen auch nach Palästina, schließlich nach Frankreich. Der europäische Antisemitismus ließ der jüdischen Familie nirgends eine Chance, trotz allen Neubeginns und mutiger Reintegration. Die literarische Verarbeitung des Familienschicksals im Stile des „roman vrai“ erzeugt beim Leser eine ungeheure Spannung, wird doch akribisch, mit geradezu kriminologischer Energie nach dem Absender der Karte gesucht. Archivrecherchen, Reisen in die Provinz auf der Suche nach Zeitzeugen, Gespräche mit Nachbarn, Freunden und Familienmitgliedern suchen danach. Das Rätsel wird schließlich gelöst. Das Paris der 1930/40er Jahre, Frankreich im Krieg, die Provinz im Pétain-Regime, Widerstand und Überlebenskunst der Verfolgten und Kollaborateure, das Leben in der Hauptstadt und tief in der Provinz treten vor Augen – immer eingebunden in das Schicksal von Familienangehörigen. Myriam, Großmutter der Autorin, entgeht als Einzige der Deportation. Der deutsche Leser heute entkommt der Scham vor der Geschichte nicht. Die Autorin selber wird sich im Laufe ihrer Enquete immer stärker der Bedeutung ihrer eigenen jüdischen Herkunft bewußt – heute im 21. Jahrhundert in Europa!

(Im  monatlichen ‚cercle littéraire‘ der Deutsch-Französischen Gesellschaft Lüneburg-Clamart e.V. ist dieses Buch am 12.September besprochen worden.)