Dirk Hansen empfiehlt:
Franziska Augstein
Winston Churchill Biografie
Verlag: dtv 2024
Eine Jahrhundertgestalt
Ein Politiker, der nichts „außer Blut, Schweiß und Tränen“ seinen Wählern zu bieten weiß, ist für heutige Verhältnisse – fast – unvorstellbar. Aber eine der schillerndsten Figuren des 20. Jahrhunderts, wie der britische Premierminister Winston Churchill (1874-1965) es war, nötigt auch einer kritischen Biographin wie Franziska Augstein, der Tochter des ‚Spiegel‘-Gründers und Herausgebers, Respekt, ja geradezu Bewunderung ab. Verständnisvolle Empathie für ihren Protagonisten und sachliche Distanz zu der historischen Gestalt zeichnen die Autorin aus, die kein faktenhuberndes Geschichtswerk vorlegt, sondern eine romanhafte Monographie zu einem Mann, der wie kaum ein anderer zwischen Triumph und Absturz oszillierte. Der als eloquentest gepriesene Redner, Member of Parliament über sechs Jahrzehnte, der Chef in acht verschiedenen Ministerien, der zweimalige Premierminister (1940-45 und 1951-55), der Journalist, Schriftsteller und Träger des Literatur-Nobelpreises (1953) – dieser Mann wußte vom viktorianischen Empire bis ins Atomzeitalter sein Land zu repräsentieren und zu führen. Als Historiker brillierte er mit einer Biografie seines Vorfahren, dem Herzog von Marlborough, einem berühmten Feldherrn um 1700, mindestens genauso mit seinen umfangreichen Werken zum 1. wie zum 2. Weltkrieg; als Journalist intervenierte er ständig in der Politik, wenn er gerade kein Amt innehatte und als Redner waren ihm weder Freund noch Feind gewachsen. Ob Tory, ob Whig, sein Selbstbewußtsein half ihm auch über Niederlagen und eigene Fehler hinweg. Kein Weg führte an ihm vorbei, nachdem die Appeasement-Politik gescheitert war. Auch als deutscher Leser heute wird man – trotz aller Bombenkriege – dankbar sein müssen, daß erst Churchill die Nazis zu stoppen wußte. Der unbedingte Wille zum Durchhalten, die feste Überzeugung, daß Friede in Europa nur ohne Hitler-Deutschland möglich sei, die Allianzen mit Roosevelts Amerika und Stalins Sowjetimperialismus mögen „unheilig“, auch unheilvoll, aber dennoch notwendig gewesen sein. Augstein hat keinen Zweifel, daß der britische Premier entschlossen und unbeirrbar im 2. Weltkrieg war und mag ihr „Held“ in den Jahrzehnten zuvor auch keineswegs „groß“ gewesen sein, so strahlt er doch als eine Jahrhundertgestalt bis in unsere Zeit hinein. Augsteins Biographie ist ein wahrer pageturner, eine Lesefreude für historisch Interessierte, die von dem Mann mit der Zigarre und dem Victory-Zeichen ein differenziertes Bild sich nun machen wollen.